Bausteine zur Geschichte der Grafen von Löwenstein-Wertheim

Mehrseitiger Artikel

Marie Müller und Joseph Süß Oppenheimer

Marie Philippine Müller, geboren 1702, ein Mädchen aus einer angesehenen Wertheimer Familie, wurde Waise, hatte ein uneheliches Kind mit einem Wertheimer Grafen, der sie nach Löwenstein brachte. Von dort ging sie nach Stuttgart und geriet in den Strudel, den der Untergang des Joseph Süß Oppenheimer auslöste.

In Wertheim

Marie Philippine Müller wird am 11. Dezember 1702 geboren. Die Familie ist respektabel, das Haus der Eltern steht in der Rathausgasse. Aber die Eltern sterben und Marie wird Waise. Der Arzt Neubig übernimmt das Haus und wird Maries Pflegevater. Das Kind war schwierig, sagt er später. Als junge Frau geht Marie nach Weimar, soll dort als Kammerdienerin arbeiten. Das Vorhaben scheitert. Marie sei zum Dienen nicht geeignet, heißt es. Männergeschichten, wird gemunkelt. Sie kommt zurück nach Wertheim.

Im Nachbarhaus am Engelsbrunnen wohnt der Graf Ludwig Moritz. Der Graf ist nicht verheiratet. Man lernt sich kennen. Später heißt es, Marie sei über die Dächer geklettert. Sie wollte hoch hinaus. Im Sommer 1731 quartiert der Graf Marie in Kredenbach beim Gastwirt Endress ein. Im Oktober wird dort ihre Tochter geboren: Louise Marie.

Graf Ludwig Moritz lässt sich von der Geburt berichten. Er zahlt für Hebamme und Säugamme, er zahlt für Mutter und Kind. Aber mehr will er nicht. Marie reist zu ihm nach Frankfurt. Hat er ihr nicht die Ehe versprochen? Davon will der Graf nichts wissen. Er bringt Marie auf seinen Besitz nach Löwenstein.

In Löwenstein

In Löwenstein bei Heilbronn wird Marie beim Amtmann Wiedholz untergebracht, die Tochter Marie Louise wohnt beim Keller Fastnacht. Marie ist unzufrieden. In Löwenstein gibt es eine Quelle und ein Kurbad. Württembergische Offiziere und Löwensteiner Prominente entspannen hier im warmen Wasser. Auch Marie sitzt im Bad. Sie soll nicht nur gesessen haben, wird es später heißen. Sie nimmt Männer mit nach Hause, wird erzählt. Ob man den Quellen trauen kann? Auf jeden Fall knüpft sie Kontakte.

Graf Ludwig Moritz hat sie abgeschoben. 200 Gulden bekommt sie im Jahr, 4000 Gulden will sie. Was tun? Sie soll sich nach Stuttgart an den Herzog wenden, rät man ihr. Joseph Süß Oppenheimer sei der richtige Mann, der habe das Ohr des Herzogs. Vogt Bayer vermittelt den Kontakt: Wer ist die Mademoiselle Müllerin, wie alt? Ist sie schön und von guter Taille?, soll Oppenheimer ihn gefragt haben. Alle diese Aussagen entstehen, als er verhaftet ist.

Marie trifft Oppenheimer in Ludwigsburg. Marie bekommt, was sie will: Der Herzog von Württemberg drängt den Wertheimer Grafen, den Unterhalt zu zahlen. Marie Müller verlässt Löwenstein und geht nach Stuttgart.

Dann stirbt der Herzog. Oppenheimer wird verhaftet. Marie steht auf der Liste der Frauen, die mit ihm "unzüchtigen" Umgang gehabt haben sollen. Sie flieht nach Wien.

In Wien

Wien, Stadt der Habsburger und Zentrum des Heiligen Römischen Reiches. Dort, am obersten Gericht des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, reicht Marie im August 1737 – fünf Monate vor der Hinrichtung Süß Oppenheimers – Klage gegen Graf Ludwig Moritz ein. Sie will Unterhalt und behauptet, der Graf habe ihr die Ehe versprochen. Marie nennt sich Madame de Löwenstein. Ludwig Moritz zahlt nun gar nichts mehr. Aus Stuttgart lässt er sich über den Prozess gegen Oppenheimer informieren. Dem wird Unzucht vorgeworfen, auch mit Marie. Darauf setzt der Graf: Er will mit Marie nur wie mit einer Hure verkehrt haben.

Der Prozess dauert 26 Jahre. Kommissionen werden eingesetzt, Gutachten werden erstellt. 1741 stirbt Graf Ludwig Moritz, die Forderungen richten sich nun an seine Erben. Maries Anwalt geht aufs Ganze. Er fordert mehr als 43 000 Gulden: rückwirkenden Unterhalt, Entschädigung für Eheversprechen, Anteil am Erbe des Grafen.

Aus alldem wird nichts. 1762 nagt Marie am Hungertuch. Nun ergeht ein Urteil: Kein Unterhalt, aber in Anbetracht der Armut der Klägerin sollen die Wertheimer Grafen ihr 200 Gulden auszahlen. Dies geschieht im Januar 1763.

Marie Müller aus Wertheim wohnt diese ganzen Jahre in Wien. Mit dem Ende des Prozesses verliert sich ihre Spur. Die Tochter Marie Louise war in Löwenstein geblieben und dort 1751 verstorben.

Ohrringe und Akten

In den Prozessunterlagen des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien fanden sich 2008 in einem Brief an Marie Müller zwei Ohrringe. Sie dürften, wie weitere Briefe auch, beschlagnahmt und als Beweismittel vor Gericht eingereicht worden sein. Mit den Ohrringen haben sich Gegenstände aus dem persönlichen Besitz der Marie Müller fast dreihundert Jahre erhalten - Besitz allerdings, der sie vermutlich nie erreicht hat.

Private Briefe finden sich auch in den Wertheimer Unterlagen neben Prozessschriften und Abschriften aus dem Verfahren gegen Oppenheimer. Darüber hinaus gibt es Quellen in den Nachlässen des Verwalters Reuss (StAWt-F Rep. 223) und des Grafen Ludwig Moritz (StAWt-F Rep. 90 und 90N). Das Leben der Marie Müller aus Wertheim war nicht nur erstaunlich aufregend, sondern ist auch erstaunlich gut dokumentiert.