"Tötung in einer Minute." Quellen zur Euthanasie im Staatsarchiv Ludwigsburg.
Im September und Oktober 2003 zeigte das Staatsarchiv Ludwigsburg die von der Gedenkstätte Grafeneck erarbeitete Wanderausstellung "Krankenmord im Nationalsozialismus — Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland". Daneben wurden auch Archivalien des Staatsarchivs gezeigt. Auf dieser Auswahl basiert die vorliegende virtuelle Ausstellung.
Die systematische Tötung von Patienten deutscher Heil- und Pflegeanstalten gehört zu einem der unglaublichsten Kapiteln der NS-Geschichte. Neben dem Holocaust steht die "Euthanasie" für das Ende der Humanität in der Zeit des Nationalsozialismus. In nicht einmal zwei Jahren, zwischen Januar 1940 und August 1941, wurden in Deutschland über 70.000 — laut anderen Quellen 190.000 — psychisch kranke und geistig behinderte Menschen ermordet. An sechs Orten in Deutschland wurden hierfür "Tötungsanstalten" mit Vergasungsanlagen und Krematorien errichtet. Eines dieser Vernichtungszentren war im Schloss Grafeneck untergebracht.
Das Schloss Grafeneck
Die Lage des Schlosses
Das Schloss Grafeneck liegt in der Nähe von Münsingen auf der Schwäbischen Alb im heutigen Kreis Reutlingen.
Grafeneck entsprach den Organisations- und Geheimhaltungskriterien für einen Tötungsstandort des NS-Regimes auf Grund seiner abgeschiedenen Lage, dem leicht abzusperrenden und zu bewachenden Gelände sowie den vielen Möglichkeiten zu baulichen Veränderungen.Vom Renaissanceschloss zur Tötungsanlage
Ursprünglich war Grafeneck ein auf einer mittelalterlichen Wehranlage errichtetes Renaissanceschloss. In der Mitte des 18. Jahrhunderts (1762–1765) wurde es durch Carl Eugen (1728–1793) zu einer prachtvollen barocken Schlossanlage mit einem kleinen Dorf (Theater, Kaserne, Kapelle) umgebaut. Bis auf das Schloss wurde diese Schlossanlage jedoch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder abgebrochen. Zwischen 1856 und 59 ließ es der württembergische Herzog Christoph zu einem Jagdschloss umbauen. 1904 wurde Freiherr Max von Tessin neuer Eigentümer des Schlosses, 1923 übernahm es der Reichsminister Graf von Kanitz. 1925 wechselte der Eigentümer erneut; Grafeneck fiel in die Hände von Eugen Wörwag, dem Stuttgarter Kurhausbesitzer. Im Jahr 1928 erwarb die Samariterstiftung Stuttgart das Schloss, die es für die "Versorgung krüppelhafter und gebrechlicher Leute" nutzte.
Am 12. Oktober 1939 erfolgte die Beschlagnahmung Grafenecks durch einen Erlass des Württembergischen Innenministeriums für "Zwecke des Reiches". Damit verbunden war die Auflage an die Samariterstiftung, die Anstalt bis zum 14. Oktober zu räumen. Am 15. Oktober wurde das im Besitz der Samariterstiftung Stuttgart befindliche Krüppelheim Grafeneck offiziell an den württembergischen Ministerialrat Dr. Stähle übergeben.
Danach wurde Grafeneck innerhalb von drei Monaten in eine Mordanstalt verwandelt. Die offizielle Bezeichnung Grafenecks lautete nun Reichspflegeanstalt bzw. Landespflegeanstalt.
Die Organisation der "T4-Aktion"
Seit Sommer 1939 gab es konkrete Planungen für die systematische Ermordung von psychisch kranken und geistig behinderten Menschen in den deutschen Heil- und Pflegeanstalten. Jedoch war das Ermächtigungsschreiben Hitlers die einzige pseudorechtliche Grundlage für die "Vernichtung lebensunwerten Lebens". De facto gab es keine gesetzliche Freigabe.
Die zentrale "Tötungsbehörde" (T4), die aus der Kanzlei des Führers der NSDAP hervorgegangen und Hitler direkt untergeordnet war, hatte ihren Sitz in der Tiergartenstraße 4 in Berlin-Charlottenburg und wurde von Reichsleiter Philipp Bouhler und Viktor Brack geleitet.
Ab September 1939 wurden zuerst die Heil- und Pflegeanstalten, danach die Anstaltsbewohner mit Hilfe von zwei Meldebogen und einem Merkblatt erfasst: Die beiden ausgefüllten Meldebogen wurden an die Zentrale der T4 weitergeleitet, wo zwei Gutachter und ein Obergutachter über Leben und Tod tausender Patienten und Heimbewohner entschieden. Die T4-Zentrale schickte die begutachteten Meldebogen den Tötungsanstalten. Von den Innenministerien (in Baden, Bayern und Württemberg) gingen die Verlegungsanordnungen in die Anstalten. Mit den grauen Busse wurden die Opfer schließlich von den Anstalten nach Grafeneck gebracht.
Zitat einer Schwester:
"Die ankommenden Kranken wurden von dem Schwesterpersonal in Empfang genommen, ausgezogen, gemessen, fotografiert, gewogen, und dann zur Untersuchung gebracht. Jeder ankommende Transport wurde ohne Rücksicht auf die Tageszeit sofort untersucht und die zur Euthanasie bestimmten wurden sofort vergast."
Die Opfer der "Euthanasie"-Aktion
Über 70.000 Menschen — laut anderen Quellen 190.000 Menschen — mit geistigen Behinderungen und psychiatrischen Erkrankungen wurden 1940 und 1941 während der "Aktion T4" in sechs Vernichtungszentren ermordet.
Die Vernichtungsanstalten im Deutschen Reich:
- Grafeneck bei Stuttgart
- Brandenburg bei Berlin
- Bernburg bei Magdeburg
- Hartheim bei Linz
- Sonnenstein bei Pirna
- Hadamar bei Frankfurt am Main
Grafeneck war der Ort, an dem am 18. Januar 1940 die systematische, industrielle Vernichtung von Menschen im NS-Deutschland begann.
Dadurch bekam Grafeneck "Vorbildcharakter" für andere Vernichtungsanstalten im Deutschen Reich.Allein im Schloss Grafeneck, der zentralen Tötungsstätte in Südwestdeutschland, wurden 1940 von Januar bis Dezember 10.654 Menschen ermordet — Männer und Frauen, alte Menschen, Erwachsene, Jugendliche und Kinder.
Die ersten Opfer Grafenecks kamen aus der bayerischen Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München, dessen Leiter Dr. Hermann Pfannmüller ein Befürworter der "Euthanasie" und für die "T4" als Gutachter tätig war. Er entschied über Leben oder Tod tausender Menschen.
Ungefähr 4.500 Opfer stammten aus badischen, knapp 4.000 aus württembergischen, über 1.500 aus bayerischen Einrichtungen, sowie ungefähr weitere 500 aus anderen Anstalten des Reiches. In Württemberg wurden aus über 20 Einrichtungen Patienten nach Grafeneck gebracht und dort ermordet.
Die vier Opfer–Gruppen
- Menschen, deren Arbeitsfähigkeit eingeschränkt war.
- Menschen, die sich länger als fünf Jahre in einer Anstalt befanden.
- Menschen, die gerichtlich in eine Anstalt eingewiesen wurden.
- Menschen, die "nicht deutschen oder artverwandten Blutes" waren, was sich im Regelfall auf Menschen jüdischer Religionszugehörigkeit bezog. Schon bei der "Euthanasie"-Aktion hatten es die Nationalsozialisten vor allem auf Juden abgesehen.
Die Täter Grafenecks
In Grafeneck waren zwischen 80 und 100 Männer und Frauen aus Berlin und Stuttgart beschäftigt. Unter ihnen waren Ärzte, Polizeibeamte, Büroangestellte, Pflege- und Transportpersonal, Wirtschafts- und Hauspersonal sowie Wachmannschaften und Leichenbrenner. Vor allem das ärztliche Leitungspersonal konnte sich frei, ohne Druck für sein Tun entscheiden. Viele der mittleren und unteren Funktionsträger wurden hingegen nach Grafeneck dienstverpflichtet oder abkommandiert. Dies geschah zum Beispiel über die NS-Frauenschaft, das Arbeitsamt oder die Landwirtschaftskammer. Einige wurden auch von Personen, die bereits in der "T4" tätig waren vermittelt. Heute kann nicht mehr gesagt werden, wie viele der Täter sich aus reiner Überzeugung der "Aktion T4" anschlossen. Angst und Repression spielten jedoch eher eine untergeordnete Rolle, obwohl bei einem Bruch des Schweigegebots, das als Geheimverrat ausgelegt wurde, das KZ und die Todesstrafe drohte.
Ausschlaggebende Gründe der Täter für ihre Beteiligung waren viel mehr finanzielle Vorteile, Karriere- und Aufstiegschancen, Obrigkeitsgedenken, Staatsgläubigkeit oder die nationalsozialistische Propaganda.
Horst Schumann, Ernst Baumhardt, Christian Wirth, Jakob Wöger und Hermann Holzschuh waren im Wesentlichen für den gesamten Mordprozess in Grafeneck verantwortlich:
- Dr. med. Horst Schumann (1906–1983): Dr. Horst Schumannn war von Januar bis März 1940 Ärztlicher Leiter und Direktor der "Landespflegeanstalt Grafeneck", ab Juni 1940 in Sonnenstein. Er war einer der T4-Gutachter und an der Selektion von KZ-Häftlingen, die in Sonnenstein vergast wurden beteiligt. Zwischen 1942 und 1944 führte Schumann Sterilisierungsexperimente in Auschwitz durch. Nach Kriegsende wurde ihm sein Dr.-Titel aberkannt.
- Dr. Ernst Baumhardt (1911–1943): Anfangs Stellvertreter Schumanns. Ab April 1940 bis zur Auflösung im Dezember 1940 Direktor ("Dr. Jäger") in Grafeneck. Ab 1941 bis Juni 1941 Direktor in Hadamar.
- Dr. Günther Hennecke (1912–1943): Stellvertretender ärztlicher Direktor (Tötungsarzt) von Baumhardt in Grafeneck. Später arbeitete er in Hadamar.
- Christian Wirth (1885–1944): Einer der wichtigsten nichtmedizinischen Leiter in Grafeneck. Der Kriminalbeamte Christian Wirth beteiligte sich am Aufbau der Büroabteilungen in Grafeneck und Brandenburg, der zweiten "Euthanasie"-Vernichtungsanstalt im Reich, wo die Morde im Februar 1940 begannen. Gleichzeitig leitete er die Büroabteilungen der Vernichtungszentren in Hadamar und Hartheim. Später stieg er zum Inspekteur aller sechs Vernichtungsanstalten der "Aktion T4", zum Polizeimajor und zum SS-Sturmbannführer auf. Nachdem die "Euthanasie"-Aktion im Deutschen Reich beendet wurde, arbeitete Wirth als Inspekteur in den Vernichtungslager in Belzec, Sobibor und Treblinka. Am 26. März 1944 wurde Wirth in Istrien entweder von Partisanen oder seinen eigenen Leuten erschossen.
- Jakob Wöger: Geboren 1987. Er arbeitete zunächst bei der Ortsverwaltung in Deizisau, im Kreis Esslingen und musste als Soldat in den Ersten Weltkrieg ziehen. 1922 trat er der Württembergischen Polizei bei. 1933 wurde Wöger Mitglied der NSDAP und der SS. Im Jahr 1936 erreichte er den Rang eines Kriminalsekretärs bei der Stuttgarter Kriminalpolizei und wurde 1938 Inspekteur der Sicherheitspolizei Stuttgart. 1939 wurde Wöger von Dr. Bohne in die "Geheime Reichssache" eingeweiht. Er war für die Leitung eines Standesamtes in Grafeneck vorgesehen. Dr. Bohne erklärte ihm damals, dass das süddeutsche Reichsgebiet als Operationsgebiet von schweren Fällen Geisteskranker geräumt werden solle und dass mit einer hohen Sterblichkeitsziffer zu rechnen sei. Für die erhöht auftretenden Sterbefälle sollte daher ein eigenes Standesamt mit einem entsprechenden Fachmann geschaffen werden. Am 12. Dezember 1939 wurde der Sonderstandesamtbezirk und das Sonderstandesamt für den Bereich der Landes- und Pflegeanstalt Grafeneck offiziell eingerichtet.
- Hermann Holzschuh: Geboren 1907. Im Jahr 1926 trat er dem württembergischen Polizeidienst bei. 1937 erreichte Holzschuh den Rang eines Kriminaloberassistenten bei der Stuttgarter Kripo. Im Jahr 1933 folgte der Beitritt in die NSDAP und die SA. 1939 wechselte er von der SA in die SS. Ein Jahr später wurde Holzschuh von Wöger als Standesbeamter und Büroleiter in Grafeneck angeworben und wurde dessen Stellvertreter. Nach Wögers Ausscheiden übernahm Holzschuh seinen Posten. Ab 1941 arbeitete Holzschuh als Standesbeamter in der "Euthanasie"-Anstalt in Bernburg, die er im April 1941 verließ.
Die Schließung Grafenecks und das Ende der "Aktion T4"
Im Dezember 1940, zwölf Monate nach dem Beginn der "Euthanasie"-Aktion wurde die Vernichtungsanstalt Grafeneck — vermutlich auf Grund Himmlers Einlenken — geschlossen. Das Personal wurde nach Hadamar versetzt, wo die Krankenmorde bis August 1941 mit derselben Brutalität weitergingen. Im März 1941 wurden weitere 500 Menschen aus Südwestdeutschland in Hadamar ermordet. Erst im August 1941 beendete Hitler durch eine mündliche Anordnung an Viktor Brack die "Aktion T4" im gesamten Deutschen Reich.
Gründe für das Schließen der Tötungsanstalt Grafeneck
Gründe für die Schließung waren zum einen das zunehmende Wissen im Verlauf des Jahres 1940 über "Die Geheime Reichssache Grafeneck" und damit das Scheitern der Geheimhaltungsbemühungen. Außerdem gab es immer häufiger Proteste gegen die "Euthanasie-Aktion" von Seiten der Anstalten, Angehörigen, Kirchen und selbst von NSDAP-Mitgliedern. Desweiteren waren es organisatorische Gründe, die zum Ende führten: Das Ziel der "Aktion T4" wurde erreicht, 70.000 Menschen wurden — wie bereits 1939 festgelegt — ermordet. Dies sind etwa 20% der Insassen aller deutschen Heilanstalten. In Südwestdeutschland wurde sogar jeder zweite Patient einer Heil- und Pflegeanstalt ermordet. Schließlich führte auch die zunehmende Konzentration des nationalsozialistischen Regimes auf den im Juni 1941 begonnenen Russlandkrieg zum Ende der "Aktion T4".
Projektbearbeitung
Inhaltliche Konzeption, Exponatauswahl und -texte: Dr. Martin Häußermann
Gestaltung, Programmierung und einleitende Texte: Carmen Haug
Konzeption und HTML-Master "Virtuelle Ausstellungen": Dr. Christian Keitel