Als »Hoffotograf« der Landesregierung, wie Burghard Hüdig (1933–2020) oft schmunzelnd tituliert wurde, fing er fast ein halbes Jahrhundert südwestdeutscher Landespolitik mit der Kamera ein. Aufmerksam beobachtete er Landtagsdebatten und Staatsbesuche. Auf ihren Reisen begleitete er die Ministerpräsidenten Filbinger und Späth bis in die entferntesten Regionen der Erde. Er begegnete Staatenlenkern und Wirtschaftsbossen, Schauspielern und Musikern, Sportlern und Gelehrten. In Hüdigs fotografischem Werk, das mehr als 400.000 Aufnahmen umfasst und im Hauptstaatsarchiv Stuttgart aufbewahrt wird, spiegeln sich der Aufbauwille und das Lebensgefühl der jungen Bundesrepublik. Die unermessliche Fülle der Bildmotive, die zwischen 1956 und 2003 entstanden sind, lassen Außergewöhnliches und Alltägliches, die Licht- und Schattenseiten des Daseins, politische Proteste und gesellschaftliche Verwerfungen, insbesondere in der Landeshauptstadt Stuttgart, eindrücklich hervortreten.
Ausstellung
»Neugier war mein Job«
Landespolitik und Zeitgeschehen in Pressebildern von Burghard Hüdig
Burghard Hüdig (1933–2020): ein Leben mit der Kamera
emessenen Wirbelstürme eine Schneise der Verwüstung. Mehr als 1.500 Häuser wurden schwer
beschädigt, hunderte Autos zermalmt, 200 Menschen verletzt, zwei getötet.
11. Juli 1968
Bereits als Jugendlicher hatte Burghard Hüdig mit dem Beruf des Fotoreporters geliebäugelt. Als er 1956 erfuhr, dass das in Stuttgart erscheinende »Deutsche Volksblatt« einen Pressefotografen suchte, gab es für den mittlerweile 23-Jährigen kein Halten mehr. Das Leben erschien ihm »wie im Traum«, wenn er Weltstars wie Louis Armstrong oder führende Politiker wie Konrad Adenauer ganz nahe vor seiner Kamera hatte. Unermüdlich war er unterwegs, um Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, um Wohlstand und Elend, um Politik und Protest, um Sport und Kultur fotografisch festzuhalten.
Seine berufliche Erfüllung fand Hüdig, der 1965 den Schritt in die Selbständigkeit gewagt hatte, in der Begleitung der Landespolitik. Eine besondere Nähe entwickelte er zu den Ministerpräsidenten, die er mit gewitzten, medienwirksamen Ideen in Szene setzte. Schon 1977 hatte er das Glück, im Gefolge von Hans Filbinger eine erste Reise nach China zu unternehmen. Gemeinsam mit Lothar Späth, dem er freundschaftlich verbunden war, jettete Hüdig in die fernsten Regionen der Erde und festigte mit seinen Aufnahmen das Image des modernen, welterfahrenen Politikers.
Im Juni 1999 erklärte der passionierte Pressefotograf seinen Rückzug aus dem kräftezehrenden Metier. Mit ungezügeltem Temperament widmete er sich fortan der abstrakten Malerei, schuf großformatige Kunstwerke, die eine »farbenfrohe Energie« ausstrahlen.
Burghard Hüdig: Beobachter der Landespolitik
25. März 1976
In Burghard Hüdigs Atelier hingen an den Wänden sorgsam gerahmte Fotografien. Sie zeigten den rastlosen Fotoreporter gemeinsam mit den Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger, Hans Filbinger und Lothar Späth. Die handschriftlichen Widmungen der Landesväter auf den Passepartouts sind fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst, lassen aber die Wertschätzung erkennen, die sie ihrem »Haus- und Hof-Bildbegleiter« entgegenbrachten.
Schon als Fotograf des »Deutschen Volksblattes« hatte Hüdig die Landespolitik verfolgt, jedoch eher peripher. Erst seit Mitte der 1960er Jahre entdeckte er die politische Fotografie als einen Schwerpunkt seines beruflichen Schaffens. Rasch knüpfte er Kontakte zur Villa Reitzenstein, wo er als gern gesehener Gast das Wirken der Hausherren – von Kurt Georg Kiesinger bis zu Erwin Teufel – bei Kabinettssitzungen und Koalitionsverhandlungen, bei Ordensverleihungen und Empfängen dokumentierte. Ebenso heimisch fühlte sich Hüdig auf der Besuchertribüne im Plenarsaal des Landtags, von wo aus er das parlamentarische Geschehen mit Interesse beobachtete.
Wenn zahllose Staatsgäste, darunter Queen Elizabeth II. (1965) und Michail Gorbatschow (1989), internationales Flair nach Baden-Württemberg brachten, war Hüdig mit der Kamera zur Stelle. Es ist sein bleibendes Verdienst, die Landespolitik über Jahrzehnte hinweg intensiv begleitet und seine bildlichen Eindrücke für künftige Generationen dauerhaft gesichert zu haben.
Auf Auslandsreisen: mit der Regierung in die weite Welt
in einem Kindergarten in Shanghai.
5. November 1979
Burghard Hüdig hat viel gesehen von der Welt. Mit seiner Kamera begleitete der Fotokorrespondent die führenden Köpfe der baden-württembergischen Politik, Wirtschaft und Kultur rund um den Globus. Mit Professionalität und Seriosität rückte er die Ministerpräsidenten Hans Filbinger und Lothar Späth auf ihren Auslandsreisen ins rechte Licht – ob auf dem Roten Platz in Moskau, unter der Christusstatue in Rio de Janeiro, auf einem Fahrrad in Shanghai, auf der Chinesischen Mauer oder bei einer Bootsfahrt auf dem Bosporus. Dabei erlebte er nicht nur große und kleine Politik, sondern auch Land und Leute hautnah. Hüdig nutzte die Gelegenheit und fertigte neben den offiziellen Empfängen und Besichtigungen umfangreiche Detailstudien der Menschen, wobei er sich vom fernen China besonders in den Bann ziehen ließ.
Neben vier Besuchen in der Volksrepublik standen auch die USA, Brasilien, Argentinien, Rumänien, die Sowjetunion und die Türkei sowie die Metropolen London und Paris auf Burghard Hüdigs Reiseprogramm. Die in fernen Weltregionen entstandenen Aufnahmen waren ihm so kostbar, dass er sie in einer Reihe von Bildbänden und Fotoausstellungen der Öffentlichkeit nahezubringen suchte.
Bewegte Zeiten: Politische Proteste im Südwesten
den Vietnamkrieg versammeln sich in Stuttgart ca. 2.000 Personen.
15. November 1969
Für eine lebendige Demokratie ist die politische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger geradezu konstitutiv. Proteste sind dabei ein zentrales Mittel, um ungehörte Positionen öffentlich zu vertreten und gesellschaftlich wahrgenommen zu werden. Vielfältige Aktionen und Veranstaltungen hat Burghard Hüdig in seinen Bildern festgehalten – ob in Stuttgart, Mutlangen oder Wyhl. Das Spektrum reichte vom Kampf um Menschenrechte über die Stationierung nuklearer Waffen in Deutschland bis zum Ringen um den Umweltschutz.
Proteste und Kundgebungen beschäftigten sich mit globalen Themen wie dem Vietnamkrieg, genauso wie mit Fragen der bundesdeutschen Politik und den lokalen Lebenswelten. Wichtige Impulse setzte etwa die Studentenbewegung mit Aktionen um die Notstandsgesetze, die Bildungsreformen oder den § 218 StGB. Auf regionaler Ebene engagierten sich Menschen, wenn ihre konkreten Lebensbedingungen betroffen waren und gestalteten das politische Geschehen mit. Für Konfliktstoff sorgten knapper Wohnraum, fehlende Kindergartenplätze oder strittige Verkehrs- und Stadtplanungen. Schon lange vor »Fridays for Future« machten sich junge Leute Gedanken um den Erhalt von Natur und Umwelt, wie dies 1971 an der Stuttgarter Ameisenberg-Volksschule der Fall war.
Stuttgart: Landeshauptstadt im Wandel
Nach Fertigstellung war es Deutschlands höchstes Wohnhaus.
10. Dezember 1968
Als Burghard Hüdig 1956 von Essen nach Stuttgart übersiedelte, waren die enormen Schäden des Zweiten Weltkriegs noch allgegenwärtig. Zugleich befand sich der Wiederaufbau in vollem Gange: In erstaunlicher Geschwindigkeit errichtete man Großprojekte wie das neue Rathaus und den Fernsehturm. Um dringend benötigten Wohnraum zu schaffen, wuchsen Hochhaussiedlungen in neue Höhen. Beton entwickelte sich zum bevorzugten Baustoff, der Brutalismus zu dessen umstrittener Begleiterscheinung. Die Ruinenlandschaft betrachteten viele als Chance für einen städteplanerischen Neubeginn als moderne, effiziente und verkehrsgerechte Großstadt. Mit dem Altbaubestand hingegen fand kaum noch eine positive Identifikation statt. So fielen auch architektonisch bedeutende Gebäude wie das Kaufhaus »Merkur« dem Abriss zum Opfer. Selbst der Wiederaufbau des Neuen Schlosses schien lange keinesfalls gesichert.
Vom Wandel betroffen waren auch die städtischen Parkflächen: Besonders die vier Gartenschauen zwischen 1950 und 1993 hinterließen bleibende Spuren. Mit dem »Grünen U« wurde eine zusammenhängende Parklandschaft von acht Kilometern Länge geschaffen. Für die Menschen, die über immer mehr Freizeit verfügten, entstand Raum für Erholung und Bewegung im Freien.
Das Ländle: ein wirtschaftliches Erfolgsmodell
16. Oktober 1984
Nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs nahmen Industrieproduktion und Wirtschaftswachstum im Südwesten rasch Fahrt auf: Die 1950er Jahre waren vom Wirtschaftswunder geprägt, das ohne Millionen Heimatvertriebene und Gastarbeiter nicht möglich gewesen wäre. Heute zählt Baden-Württemberg zu den wirtschaftlich stärksten Regionen in Europa. Besonders die Automobilindustrie ist ein starkes Zugpferd, dicht gefolgt vom Maschinenbau. Eines der größten und namhaftesten Unternehmen: der »Daimler«. Immer wieder besuchten ausländische Politiker die Daimler-Benz-Werke in Stuttgart und Umgebung, 1969 beispielsweise der kongolesische Diktator Mobutu Sese Seko. Stärker noch als die Marke Mercedes stehen die Sportwagen aus dem Hause Porsche für Exklusivität und Luxus.
Neben Weltkonzernen wie Daimler, Bosch oder SAP sind es viele mittelständische Firmen, die dank ihrer Erfindungen in spezialisierten Bereichen Weltmarktführer wurden, zum Beispiel der Maschinen- und Werkzeugbauer Trumpf aus Ditzingen, der in den 1980er Jahren mit computergestützten Stanzmaschinen und neuartiger Lasertechnik expandierte. Die große technische Innovationskraft war eine wesentliche Säule des baden-württembergischen Erfolgsmodells.
Auf Achse: Mobilität in Baden-Württemberg
Hauptbahnhof Stuttgart.
12. Mai 1972
Wie kaum ein anderes Bundesland verkörpert Baden-Württemberg die Geschichte des Automobilverkehrs im 20. Jahrhundert. Dazu hat besonders die Automobilindustrie beigetragen. Der motorisierte Individualverkehr veränderte nicht nur die Reisegewohnheiten der Menschen, sondern gerade auch den ländlichen wie städtischen Raum. Die großen Straßenachsen, die einstmals für den Fortschritt standen, werden heute nicht selten als Belastung empfunden.
Die Verkehrsgeschichte Baden-Württembergs auf das Automobil zu reduzieren, würde zu kurz greifen. Denn trotz der engen Verbindung zwischen Ländle und Auto kam es in den zurückliegenden Jahrzehnten auch in anderen Bereichen zu wegweisenden Entwicklungen. Beim Bahnverkehr reichten sie von der umfassenden Streckenelektrifizierung über den Bau von S- und U-Bahnen bis hin zur Eröffnung von Schnellfahrstrecken. So rückte das Land zusammen. Gleichzeitig zog es die Menschen aber auch in die Ferne. Dafür stehen nicht zuletzt neue und immer größer werdende Flughäfen und Flugzeuge. Schließlich erfasste der Mobilitätsschub auch die Binnenschifffahrt, indem Häfen, Kanäle und Schleusen ausgebaut wurden.
Mehr als Autos und Häuslebauen: Kunst und Kultur
30. Januar 1965
Kunst und Kultur prägen den Alltag der Menschen, beeinflussen ihre Weltsicht und beschäftigen ihre Fantasie. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Burghard Hüdig in Konzertsälen und auf Theaterbühnen, in Museen und Galerien, in Fernsehstudios und auf Volksfesten immer wieder Motive für seine Fotos fand. Er dokumentierte die kulturelle Entwicklung des Landes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Neue kulturelle Ausdrucksformen wie der Rock’n’Roll fanden rasch Eingang in Tanzpalästen und in den Festzelten auf dem Cannstatter Wasen.
Aber auch die Kräfte der Beharrung und der Tradition werden in den Fotos sichtbar, wenn Volksmusikgruppen zu internationalen Tourneen starten oder Narren die Fastnacht feiern. Einen besonderen Reiz auf Hüdig übten die Film- und Bühnenstars seiner Zeit aus. Er empfand es als Privileg seines Berufes, mit Stars wie Louis Armstrong oder Marcia Haydée auf Tuchfühlung gehen zu können. Darüber vergaß er die kleinen Freuden nicht, welche die Kunst den Menschen zu schenken vermag. Noch heute meint man, den angehaltenen Atem der kleinen Zuschauer zu spüren, die Hüdig während einer Marionettentheateraufführung 1956 ablichtete.
Nicht zuletzt galt die Aufmerksamkeit des Bildjournalisten dem technologischen Fortschritt, den er in Hochleistungsrechnern oder in der Luft- und Raumfahrtforschung zu fassen wusste.
Mit Muskeln und Motoren: Stuttgarter Sportgeschichte(n)
führten zum Ende der legendären Rennveranstaltung.
18. Juli 1965
Als gefragter Pressefotograf war Burghard Hüdig selbstverständlich bei sportlichen Ereignissen in der Landeshauptstadt präsent. Neben dem großstädtischen Breiten- und Spitzensport dokumentierte er schon früh neue Sportphänomene: Sei es in den 1960er Jahren ein Auftritt des späteren Star-Bodybuilders Arnold Schwarzenegger oder ein Show-Spiel des US-amerikanischen Basketballteams Harlem Globetrotters. Er begleitete zahlreiche Sportgroßveranstaltungen wie die legendären Auto- und Motorradrennen auf der Solitude oder die Leichtathletik-Europameisterschaft 1986 im damaligen Neckarstadion, die maßgeblich zu Stuttgarts Renommee als »Sportstadt« beitrug. Dass die Fotografie hervorragend geeignet ist, die entscheidenden emotionalen Momente im Sport lebendig festzuhalten, belegen Hüdigs Aufnahmen anlässlich der vom VfB Stuttgart errungenen Deutschen Meisterschaft 1984. Sie fangen die Begeisterung der Fans bei der Siegesfeier auf dem Stuttgarter Marktplatz eindrucksvoll ein. Hüdigs Sportfotos zeigen, dass der Sport nicht nur einen wichtigen Teil regionaler Identität darstellt, sondern immer auch die zeittypischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen widerspiegelt.
Alle Bilder dieses Artikels befinden sich im Bestand HStAS Q 2/50 im Hauptstaatsarchiv Stuttgart.
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