Aufschwung eines alten Handwerks
(LABW, HStAS Q 2/50 Nr. 1326-30 u. -34)
Dutzende Zuschauer haben sich in Sonntagskleidung in der rußigen, vom Schmelzofen erhitzten Werkstatt der Stuttgarter Glockengießerei Heinrich Kurtz versammelt. Es sind Gemeindeglieder der Fellbacher Johanneskirche, die gekommen sind, um der Geburt ihres neuen Geläuts beizuwohnen. Die Anspannung ist spürbar, entscheidet sich doch in den nächsten Momenten, ob sich die harte Arbeit der vorherigen Monate gelohnt hat. Zugleich hat der Guss den Charakter eines feierlichen Rituals: Traditionell wird der Ablauf mit dem Gebet eines Geistlichen eingeleitet, bevor der Meister den Zapfen des Schmelzofens ausstößt und die 1.100 Grad heiße Bronze durch die gemauerten Gusskanäle nacheinander in die eingegrabenen Hohlformen fließt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg der Bedarf an Kirchenglocken für etwa zwei Jahrzehnte stark an: Zu Kriegszwecken eingeschmolzene Glocken mussten ersetzt, zerstörte Kirchen wiederaufgebaut und zahlreiche Neubauten errichtet werden. Doch egal wie futuristisch manches Kirchengebäude der Nachkriegsjahrzehnte erscheinen mag, die Anfertigung der Glocken bleibt weiterhin reines Handwerk, an deren archaisch wirkenden Prozessen sich seit Jahrhunderten wenig verändert hat.
Die Glockengießerei Kurtz war bereits 1690 in Reutlingen gegründet, und 1803 nach Stuttgart verlegt worden. Als Familienunternehmen geführt, baute die Nachkriegsgeneration die im Krieg beschädigte Werkstatt 1947 wieder auf und goss, bis der Betrieb 1962 schließlich eingestellt wurde, 3.650 Glocken – mehr als alle vorherigen Generationen zusammen. Zu den größten Aufträgen gehörten fünf neue Glocken für das Ulmer Münster; auch das Glockenspiel im Stuttgarter Rathausturm stammt von Kurtz.
Heute sind deutschlandweit nur noch sechs Glockengießereien aktiv. Der Kurtzsche Firmensitz in der Stuttgarter Heusteigstraße ist längst verschwunden.